Frühe Richtungsstreitigkeiten in der Homöopathie

"Freie" und "Reine" Homöopathen

Der Ruf nach Eintracht

„Ein Ruf nach Eintracht“ titelte Dr. Goullon in der Neujahrsausgabe der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung (AHZ) von 1859 und fragte sich „Woher aber diese Erbitterung gegen wesentlich Gleichdenkende und nach einem Ziel strebende?“ - Das könnte man sich bei Auseinandersetzungen unter Homöopathen auch heute manchmal fragen.

Fakt ist, die über 200jährige Geschichte der Homöopathie ist komplex und geprägt von verschiedenen personellen Faktoren. Das Ineinandergreifen von sich wandelnden soziologischen, kulturellen, wissenschaftlichen, ökonomischen, politischen und religiösen Rahmenbedingungen bestimmte ihre Entwicklung. Dabei erlebte die Heilmethode in verschiedenen Regionen der Welt wiederholt Phasen von Aufschwung, Blütezeit und Rückgang der Popularität.

Unstimmigkeiten mit Spaltungs- und Abgrenzungs-Tendenzen unter den Homöopathen begannen schon ganz früh und durchziehen die Geschichte. Je nachdem ob man die Homöopathie-Geschichte von einem historischen, naturwissenschaftlichen oder weltanschaulichen Standpunkt aus betrachtet, wird man unterschiedliche Gründe für die Diskrepanzen die Anhänger verschiedener Richtungen ausmachen. Neben dem inhaltlichen Dissens spielten zu jeder Zeit auch gruppendynamische Prozesse eine Rolle.

Die Anhänger der Homöopathie mussten sich von Anbeginn mit Gegnern auseinandersetzen. Auf verschiedenen Wegen versuchten Zeitgenossen, sie zu widerlegen, zu verhindern oder lächerlich zu machen. Zu diesen Angriffen von außen kamen typische interne Konflikte, oft Rollen- und Rangkonflikte. Denn Samuel Hahnemann hat keine fertige und widerspruchsfreie Methode entwickelt. Ungelöste Probleme, Widersprüche und Paradoxien waren und sind Reibungspunkte und Triebfedern für die Weiterentwicklung. Leider sah Hahnemann mit zunehmendem Alter sein Lebenswerk nicht nur durch die äußeren Gegner, sondern auch von innen gefährdet. Mit seiner teilweise wenig feinfühligen und autoritären Haltung trug er selbst zu den frühen Verwerfungen bei.

Sind Eintracht und längerfristige Kontinuität überhaupt möglich? Würde Eintracht unter den Homöopathen zu mehr Kontinuität führen? Oder würden sie die Weiterentwicklung eher lähmen?

Einfache Antworten gibt es nicht. Aber der folgende Rückblick über die Anfänge der Homöopathie, regt vielleicht zum Nachdenken an.

Hahnemann am Anfang seiner Bemühungen um die Verbreitung der Homöopathie

1790 betrachtete Hahnemann als das Geburtsjahr der Homöopathie. Dennoch war es ein schrittweiser Erkenntnisprozess, der ihn über Literatur und Beobachtungen zu dem Beschluss geführt hatte, Arzneistoffe selbst zu erproben, um sie gezielt einsetzen zu können. In der ersten Zeit war er mit seiner Idee noch Einzelkämpfer. Bald wurde Hahnemann aber klar, dass er für sein aufwändiges Unterfangen Mitstreiter brauchte. Er publizierte in verschiedenen Zeitungen[1] und rief seine ärztlichen Kollegen zur Erprobung des Ähnlichkeitsprinzips auf. Vor allem wünschte er sich Unterstützung bei weiteren Arzneiprüfungen.

1811 zog er von Torgau in die Universitätsstadt Leipzig, um seine Sache denen nahe zu bringen, die selber Medizin praktizierten und lehrten. Doch keiner der gestandenen Leipziger Ärzte ließ sich damals darauf ein, Hahnemanns Erkenntnisse überhaupt anzuhören, geschweige denn sie auszuprobieren. Es hätte ihre gesamte bisherige Denk- und Arbeitsweise sowie ihre Reputation infrage gestellt.

Da er bei den ausgebildeten Ärzten keinen Erfolg hatte, bemühte sich Hahnemann um eine Dozentenstelle an der Universität Leipzig und wandte sich nun den Studierenden zu. Ab dem Wintersemester 1812 hielt er wöchentlich Vorlesungen über sein Werk Organon der Heilkunst[2]. Die Lehrveranstaltungen liefen regelmäßig aus dem Ruder, weil die meisten Studenten nur zur Belustigung kamen.

Die Universität Leipzig zu Zeiten Hahnemanns vor 1830

Eine Homöopathie-Gemeinschaft bildet sich

Eine kleine Gruppe ernsthaft Interessierter kristallisierte sich heraus. Diese Medizinstudenten lernten Hahnemann auch privat kennen, sie trafen sich in seinem Haus und verlebten im Kreise seiner Familie gesellige, heitere Abende, sie diskutierten über die Wissenschaft, über die Themen ihrer Zeit, über Gott und die Welt.

Hahnemanns Begeisterung für seine neue Idee wirkte ansteckend. Voller Enthusiasmus gelobten die Schüler, die Homöopathie nach Kräften zu fördern. Hahnemann gab ihnen dazu Gelegenheit, indem er sie einlud, sich an den Arzneiprüfungen zu beteiligen. Das Gefühl, ein Scherflein zu etwas Großem beitragen zu können, motivierte sie.

Zur ersten Arznei-Prüfer-Gemeinschaft gehörten laut Franz Hartmann (1796-1853)[3] die Leipziger Studenten C.G.K. Hornburg (1793-1834), G.W. Groß (1794-1847), C.G. Franz (1795-1835), E.F. Rückert (1795-1843), W.E. Wislicenus (1797-1864), J.C.D. Teuthorn (1795-?)[4], C.T. Herrmann (1796-?), C.F. Langhammer (1786-184?) sowie der Naumburger Arzt J.E. Stapf (1788-1860)[5] und später der Zahnarzt S. Gutmann (1789-1852)[6]. [Hartmann, 1850, AHZ 38. Bd.]

Mit ihrer Unterstützung entstand von 1811-1821 Hahnemanns 6-bändige Reine Arzneimittellehre.

Die Situation der ersten Schüler und Anhänger

In dieser Zeit mussten seine Schüler neben Spott und Verachtung auch feindselige Böswilligkeiten ertragen. Über eine Anklage wegen Selbstdispensierens[7] der Arzneien versuchten Hahnemanns Gegner in Leipzig, die Ausbreitung der Homöopathie zu stoppen.

Das brachte auch seine Schüler in Gefahr, wegen unbefugten Praktizierens und Selbstdispensierens bestraft zu werden. Bei Hornburg und Franz beschlagnahmte man beispielsweise auf Anweisung des Universitäts-Gerichts sämtliche homöopathische Arzneien. In der Promotionsprüfung ließen die Professoren Hornburg, dem manche Kommilitonen fachlich nicht das Wasser reichen konnten[8], schlicht durchfallen.

Ein weiteres einschneidendes Ereignis für Anhänger und Gegner der Homöopathie war 1820 die Behandlung des Feldmarschalls von Schwarzenberg. Hahnemann hatte ihn dazu bewegen können, dafür nach Leipzig zu kommen. Mediziner wie Laien verfolgten die Nachrichten über den Gesundheitszustand des schwerkranken Feldmarschalls. Der Aufruhr in der Stadt erhöhte den Druck auf die Anhänger der Homöopathie. Trotz anfänglicher Besserung unter Hahnemanns Behandlung erlitt Schwarzenberg einen Schlaganfall und verstarb. Die Gegner jubelten insgeheim, der Homöopathie brachte es zwar weitere Schwierigkeiten aber nicht den erwarteten Fall.

Der motivierende Impuls der Anfangszeit war klar von Hahnemanns charismatischer Führungspersönlichkeit und großer Begeisterungskraft ausgegangen. Seine Identitäts-stiftenden Lehrsätze und Heilsversprechen schufen erste Orientierung. Durch die von ihm initiierten Arbeitstreffen sowie die fröhlichen Zusammenkünfte konnten die Gruppenmitglieder persönliche Bindungen aufbauen und festigen. Eine Zeitlang entwickelten seine Anhänger mit der Ausrichtung auf eine gemeinsame große Sache eine große kollektive Energie. Sie brachten neben ihrem Medizinstudium den Mut und die Disziplin für die Arzneiprüfungen auf. Die permanenten Herabwürdigungen von Seiten der Kommilitonen und Professoren schweißten sie zusammen.

Dennoch war es eine kräftezehrende und zunehmend belastende Situation. Hornburgs Beispiel hatte gezeigt, wie leicht man sich mit einem offenen Bekenntnis zur Homöopathie die zukünftige Berufslaufbahn ruinieren konnte. Wer das nicht riskieren und mit der ärztlichen Praxis seinen Lebensunterhalt verdienen wollte, musste einen diplomatischeren Weg gehen.

Die Homöopathie findet Anhänger unter ausgebildeten Ärzten

Spätestens mit Hahnemanns Übersiedelung nach Köthen zerfiel die erste Prüfergemeinschaft. Ihre ehemaligen Mitglieder, nun selbst praktizierende Ärzte, lebten inzwischen verstreut.

Die Homöopathie bekam nun endlich Zulauf aus den Reihen gestandener Ärzte, weil sich Erfahrungen und Behandlungserfolge herumsprachen. Durch Heilungserlebnisse motiviert oder auch aus Verzweiflung über das Versagen seiner bisherigen Behandlungsweise hatte mancher zum Organon gegriffen, sich eingelesen und eigene Versuche gemacht. Der Kreis der Anhänger vergrößerte und veränderte sich dynamisch.

Zu ihnen gehörten G.A.H. Mühlenbein (1764–1845), G.A.B. Schweikert (1774-1845)[9], W.L. Rau (1779–1840), M. Müller (1784–1849), F.J. Rummel (1793-1854)[10], S.Th. Thorer (1795-1846)[11], K.G. Caspari (1798-1828), C.G.C. Hartlaub (1795-1839), Sax, Marenzeller (1765-1854).

Hahnemanns unmittelbarer Einfluss auf seine Anhänger schwindet

Von Köthen aus war für Hahnemanns die direkte Einflussnahme auf die Ausbreitung der Homöopathie schwieriger geworden. Dennoch hatte er weiterhin ein Auge darauf, dass seine Heilmethode nicht verfälscht wurde. Obwohl er selbst lebenslang experimentierfreudig und flexibel in der Anwendung seine Methode blieb, wachte er bei anderen äußerst streng, ja fast überkritisch auf die Einhaltung seiner Regeln.

Aus Loyalität oder auch nur um einen Eklat zu vermeidenden, hielten sich beispielsweise die ersten Schüler in den 1820er Jahren noch streng an die damaligen Vorgaben zur Gabenwiederholung, d.h. langes „Auswirkenlassen“ und keine Wiederholung desselben Mittels. Außerdem fehlten zu dieser Zeit noch praktische Erfahrungen anderer, von denen man lernen konnte. Der Bedarf nach Austausch wuchs. Insbesondere Ärzte, die sich neu für die Homöopathie interessierten und erste Erfahrungen machten, benötigten Kommunikationsmöglichkeiten.

Stapf, Groß und Müller füllten diese Lücke mit der Gründung der Zeitschrift Archiv für die homöopathische Heilkunst. Das erste Heft des ersten fachspezifischen Periodikums erschien Neujahr 1822. Mitgründer Moritz Müller, der Hahnemann übrigens nie persönlich kennengelernt hat, erinnert sich: „Die erste [Periode; Anm. d. Verf] hatte keine Literatur gehabt, als Hahnemann’s Lehrbücher und einzelne Streitschriften; von jetzt an wurde die Homöopathie Gegenstand der Wissenschaft und der freien Discussion. Es zeigten sich gleich im ersten Hefte die zwei Seiten (Fractionen) der Homöopathie, die streng Hahnemann’sche oder rein homöopathische, damals repräsentirt durch Stapf und Gross, und die vermittelnde, frei homöopathische, repräsentirt durch mich.“ (Müller, 1837, S. 12)

Die Gruppe der Homöopathen wächst

Müller stand für die vielen neuen Homöopathie-Anhänger, die sich die notwendigen Kenntnisse zunächst im Selbststudium und durch eigene Versuche aneignen mussten. Da sich Lernprozesse aber nur Schritt für Schritt vollziehen, konnte man von praktizierenden Ärzten kein drastisches Umschwenken erwarten. Diese „Fraktion“ maß selbstverständlich das Neue an ihren bisherigen Erfahrungen. Sie waren kritischer als Studenten und Laien und weniger empfänglich für Hahnemanns charismatische Ausstrahlung. Verständlich, dass sie nur allmählich und mit wachsenden Erfolgen bereit waren, der Heilmethode zu vertrauen. Verständlich ist ebenfalls, dass sie versuchten, die Homöopathie in ihr Weltbild zu integrieren. Lernen ist eben ein sukzessiver, diskursiver und integrativer Prozess.

Die Gruppe der Homöopathen wuchs und wurde inhomogen. Um einen überregionalen Austausch und Zusammenwirken der Anhänger zu ermöglichen, gründeten die Leipziger Homöopathen zunächst den Allgemeinen homöopathischen Verein, der dann später in Zentralverein (bzw. Deutscher Zentralverein homöopathischer Ärzte) umbenannt wurde.

Daneben entstanden bis Mitte 1832 lokale Regionalvereine in der Lausitz, Dresden, Leipzig, Thüringen, Hessen und etwas später auch in Baden. Mit der Zielsetzung, die Homöopathie zu fördern und zu verbreiten, waren auch Laien und Freunde der Homöopathie angesprochen. Sie durften dem Zentralverein ebenfalls beitreten.

Hahnemann mischte sich anfangs nicht in diese Aktivitäten ein. Das änderte sich, als der Zentralverein die Einrichtung eines von Hahnemann schon lange gewünschten Projektes, einer homöopathische Lehr- und Heilanstalt, beschloss. Als erste derartige homöopathische Einrichtung sollte sie der Welt als Vorbild dienen.

Eklat und Bruch zwischen den Fraktionen

Beim Aufbau und Betrieb der Lehr- und Heilanstalt in Leipzig vollzog sich die erste wirklich tiefgreifende Spaltung, und zwar durch die Streitfrage, ob ausschließlich homöopathisch behandelt werden MUSS oder ob in bestimmten Fällen auch nichthomöopathische Interventionen erlaubt sind. Hahnemann, der sein Lebenswerk nun auch von Seiten der eigenen Anhänger gefährdet sah, ließ am 03. Nov. 1832 im Leipziger Tageblatt eine scharf formulierte Warnung an die von ihm so genannten „Leipziger Halb-Homöopathen“ abdrucken. Dieses drastische und öffentliche Vorgehen kam bei den Ärzten, die für das Projekt unentgeltlich Zeit und Mühe investiert hatten, nicht gut an.

In der Folge wurden fachliche Fragen von verletztem Ehrgefühl, Fehlinterpretationen, Rechtfertigungen und anderen zwischenmenschlichen Konflikten überschattet. Man bedenke, dass damals weiter voneinander entfernt wohnende Kollegen nicht einfach zum Telefon greifen konnten, um Missverständnisse auszuräumen. Kurzfristige klärende Gespräche waren nicht möglich. Man war auf handschriftliche Korrespondenz oder auf Veröffentlichung in der Presse angewiesen und die Kommunikation dementsprechend träge.

Reine und Freie Homöopathen

Nach Hahnemanns öffentlicher Maßregelung der sogenannten Halb-Homöopathen fühlten sich die Angegriffenen verständlicher Weise brüskiert. Mit diesem Machtwort war die Atmosphäre für einen offenen und konstruktiven Dialog erst mal verdorben. Nun sahen sich die homöopathischen Ärzte wenigstens genötigt, eine Position zur Streitfrage einzunehmen. Die, welche sich zu Hahnemann und gegen jegliche allopathische Maßnahme bekannten, bezeichnete Moritz Müller als die „Reinen Homöopathen“. Diejenigen, die anders dachten und praktizierten, nannte er „Freie Homöopathen“. Er beabsichtigte nie eine offene Konfrontation, bestand aber auf der wissenschaftlichen Freiheit. Was er damals betonte, ist heute nicht minder aktuell, nämlich dass in der Wissenschaft weder die Mehrheitsmeinung noch eine Beschränkung auf Ansichten Einzelner zählt, sondern nur der unwiderlegbare praktische Nachweis. Alles andere führe zu Dogmatismus und Intoleranz.

Müller war damals Direktor des Zentralvereins und übernahm aufgrund Schweikerts[12] plötzlichem Rückzug notgedrungen als erster die Direktorenstelle der homöopathischen Lehr- und Heilanstalt in Leipzig. Für beide Projekte hatte er sich intensiv und ohne Bezahlung engagiert. Möglicherweise hat ihm gerade das mehr Misstrauen als Anerkennung eingebracht.

Da die Fraktion der „Freien Homöopathen“ keinesfalls an einer Abspaltung und einem Bruch mit Hahnemann interessiert war, unterzeichneten sie wie die anderen eine am 11. August 1833 in Köthen ausgearbeitete Erklärung, die die Hauptpfeiler der Homöopathie wie folgt definierte:

„1 strenge unbedingte Befolgung des Princips similia similius und daher

2 Vermeidung aller antipathischen Verfahrungsarten[13], wo es möglich ist, durch homöopathischen Mittel den Zweck zu erreichen, daher möglichste

3 Vermeidung aller positiv, sowie aller durch Nachwirkung schwächender Mittel, daher Vermeidung aller Blutentziehungen, aller Abführungen von oben und unten, aller schmerzerregenden, rothmachenden, blasenziehenden Mittel, Brennen, Stiche u.s.w.

4 Vermeidung aller blos zur Aufreizung bestimmten und gewählten Mittel, deren Nachwirkung in jedem Falle schwächend ist.“ (Müller, 1837, S. 80)

Doch die Einigung war nur von kurzer Dauer. Am 21. September 1833 druckte der Allgemeine Anzeiger der Deutschen die Erklärung auf Hahnemanns Wunsch in einem abgeänderten Wortlaut ab[14]. Als Ende Oktober desselben Jahres die 5. Auflage des Organon erschien und Hahnemann in dem aktuellen Vorwort jede nichthomöopathische Behandlung drastisch tadelte, fühlten sich die „Freien“ endgültig wie Geächtete. Der Riss war nicht mehr zu kitten und wurde immer breiter.

Der Leipziger Lehr- und Heilanstalt war letztlich kein Erfolg beschieden. Die Direktorenstelle wurde zwischen den Fraktionen hin- und hergereicht wie eine heiße Kartoffel. Kritisch beäugte die eine das Tun der anderen und hob jeweils deren Misserfolge hervor. Die Anstalt schlingerte seit ihrer Eröffnung mit häufig wechselndem Personal. Ihrer Bezeichnung als Lehrinstitut wurde sie nicht gerecht, Unterricht suchende Ärzte reisten wieder ab.

Vermittelnde „Reine“ und sich abgrenzende „Freie“

Dass sich Homöopathen, die nach dieser Spaltung pauschal zu den Reinen und Hahnemann-Treuen gezählt wurden, dennoch ihre wissenschaftliche Freiheit erhalten haben, zeigen die Geschichten von C. Hering und G.H.G. Jahr. Beide blieben dem Begründer der Heilmethode gegenüber loyal und respektvoll. Beide initiierten erstmals systematische Vorlesungen und Unterricht – Hering ab 1830 in Surinam (Paramaribo), ab 1836 in Nordamerika (Allentown) und Jahr 1839 in Paris.

C. Hering

Bei C. Hering, der sich von 1827 bis 1832 auf naturkundlicher Forschungsreise in Surinam aufhielt, war die Distanz zu den Querelen der deutschen Homöopathen offenbar vorteilhaft. Fern von Europa eignete er sich die Homöopathie „learning by doing“ in einem toleranteren Umfeld an. Er sammelte unter anderem Erfahrungen in einem von ihm 1830 in Paramaribo gegründeten kleinen Hospital und arbeitete in einer nahegelegenen Leprastation. In Briefen an Stapf, die im Archiv für die homöopathische Heilkunst[15] veröffentlicht wurden, berichtete Hering von seinen Forschungen und Erkenntnissen auf dem Gebiet der Homöopathie. Mit Hahnemann stand er in losem Schriftwechsel.

G.H.G. Jahr

G.H.G. Jahrs Loyalität ergab sich daraus, dass er Hahnemann – im Gegensatz zu Hering – besonders nahe kennengelernt hatte. 1834 verbrachte er acht Monate als Mitarbeiter an einem Buchprojekt in Köthen. Für ihn war der Begründer der Homöopathie Lehrer, väterlicher Mentor und zugleich fehlbarer Mensch. Durch den unmittelbaren Einblick in Hahnemanns Praxis und Denkweise sah Jahr wohl, dass es zuweilen eine gewisse Diskrepanz zwischen Praxis und Theorie gab. Das änderte nichts an dem Respekt, den er Hahnemann und seiner Lebensleistung zollte.

L. Griesselich

Während sich Hering und Jahr um Vermittlung bemühten, nahmen mit dem Auftreten des Arztes Ludwig Griesselich (1804-1848) und dem Erscheinen seiner Zeitschrift Hygea ab 1834 sowohl Dissens und Zersplitterung als auch die Schärfe der Auseinandersetzungen zu. Obwohl Griesselich bei Beginn der Herausgabe der Hygea noch ein Anfänger war, schrieb er unnachgiebig und polemisch, jegliche Aussöhnung mit anderen Ansichten von vornherein ablehnend. Er zementierte eine Kluft, indem er fordert, die Homöopathie strikt von Hahnemann zu trennen. Seine Richtung, die er „Spezifische“ nannte, setzte sich nicht durch.

Entwicklung zwischen inneren und äußeren Spannungsfeldern

„Wie jede neue Heillehre bedurfte auch die Homöopathie zu ihrer Entstehung und Entwicklung der freien Entfaltung innovativer, progressiver Impulse, zu ihrer Abgrenzung und Konsolidierung aber auch des gezielten Einsatzes versammelnder, konservativer Kräfte.“ (Schmidt, J., 1999, S. 325)

Damit beschreibt Josef Schmidt die beiden Momente der dialektischen Entwicklung äußerst treffend. Sie zieht sich von Hahnemanns verschiedenen Lebens- und Wirkungsphasen bis in unsere heutige Zeit und verläuft diskontinuierlich.

Für die Fortentwicklung und Klärung vieler noch ungelöster Fragen ist ein offener wissenschaftlicher Diskurs unentbehrlich. Widerspruch und Spannung zwischen Gegensätzen setzen kreative Kräfte frei. Das Beharren auf überholten Konzepten führt nicht zu Kontinuität sondern zu Stillstand.

Ja, Herr Goullon, wir brauchen die konservativen wie die innovativen Kräfte und auch fairen Streit, aber keine persönlich zermürbenden, erbitterten Auseinandersetzungen!

Anhang


Fußnoten

[1]Siehe dazu Schmidt, Josef M., Kaiser, Daniel (Hrsg.) (2001): Samuel Hahnemann: Gesammelte kleine Schriften. Heidelberg: Karl F. Haug Verlag.

[2]In diesem Text wird die gebräuchliche Abkürzung Organon für eines der Hauptwerk Samuel Hahnemanns, das Organon der Heilkunst verwendet.

[3]Franz Hartmann gab später mit Gustav Wilhelm Groß und Friedrich Rummel die Allgemeine Homöopathischen Zeitung heraus und leitete für eine Zeit das Leipziger homöopathische Krankenhaus. Als einer der ersten Schüler Hahnemanns veröffentlichte er später in der AHZ Artikelserien seine Erinnerungen an Hahnemann und an die Frühphase der Homöopathie in Deutschland

[4]Von den ehemaligen Leipziger Medizin-Studenten Johann Christian David Teuthorn und Herrmann sind (außer dass Teuthorn 1848 auswanderte) keine weiteren Informationen zu Leben und Wirken überliefert.

[5]Johannes Ernst Stapf hat in Leipzig Medizin studiert, ließ sich 1811 in Naumburg nieder. Nach Lektüre des Organon trat mit Hahnemann in brieflichen und freundschaftlichen Kontakt, gab mit G.W. Groß und M. Müller ab 1822 das Archiv für die homöopathische Heilkunst heraus

[6]Samuel Gutmann war Zahnarzt, ließ sich in Leipzig nieder, schloss sich Hahnemann und dem Prüfer-Verein an. Als erster homöopathisch praktizierender Zahnarzt publizierte er über die Anwendung der Homöopathie in der Zahnheilkunde.

[7]Selbstdispensieren = Abgabe von Medikamenten durch den Arzt selbst und nicht durch eine Apotheke. - Hahnemann fühlte sich für die Qualität seiner verordneten Mittel verantwortlich und stellte sie deshalb zunächst selbst her. Da in Leipzig die Apotheker das Privileg der Arzneiherstellung besaßen, nutzten sie das als Vorwand für eine Anklage. Eine der ersten Apotheken, die homöopathische Arzneien zuverlässig herstellten und auch versandten, war die Apotheke der Herrnhuter Brüdergemeine in Neudietendorf. Mit ihr kooperierte Hahnemann später.

[8]So äußerte sich Hartmann (1850) über seinen Kommilitonen und Freund, Hartmann hat in seiner Artikelserie in der AHZ zu vielen Mitgliedern des damaligen Prüfvereins seine persönlichen Erinnerungen festgehalten.

[9]Schweikert sen. War seit 1820 mit M. Müller befreundet, wandte sich 1825 der Homöopathie zu. Er gab 1830-1836 die Zeitung der naturgesetzlichen Heilkunst für Freunde und Feinde der Homöopathik (auch: Zeitung der homöopathischen Heilkunst für Ärzte und Nichtärzte). Er wurde später Hahnemanns Wunschkandidat für die Leitung der Leipziger homöopathischen Heilanstalt.

[10]Rummel wandelte sich erst 1825 von einem Gegner zu einem Anhänger der Homöopathie.

[11]Thorer gründete 1832 mit anderen Ärzten den Lausitzisch-Schlesischen Verein homöopathischer Ärzte (Pseudonym: Portalius)

[12]Der Arzt Georg August Benjamin Schweikert (1774–1845) war eigentlich Hahnemanns Favorit für die Leitung der Lehr- Heilanstalt, https://www.igm-bosch.de/files/img/pdf-dokumente-publikationen/Pluralismus in der Medizin/Doerges.pdf

[13]Widersprach sich da Hahnemann nicht sogar selbst, da er ja 1831 zur Bekämpfung der Cholera aufgrund von Erfahrungen und nicht wegen Ähnlichkeit die Verwendung von Kampfer in Urtinktur empfohlen hatte?Vgl.: Hahnemann, S. (1831).: Sendschreiben über die Heilung der Cholera und die Sicherung vor Ansteckung. Bei August Hirschwald, Berlin. https://books.google.de/books?id=axE4AAAAMAAJ&pg=PA11&dq=Cholera+Kampfer+inauthor:Hahnemann&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwiN2Ym6weOAAxUmRvEDHRxDAiEQ6wF6BAgJEAE#v=onepage&q=Cholera Kampfer inauthor%3AHahnemann&f=false

[14]Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen vom 21.09.1833: https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb10530546_00497_u001/1

[15]Diese im Archiv für die homöopathische Heilkunst (ACS) veröffentlichten brieflichen Mitteilungen aus Surinam finden sich in Herings Medizinische Schriften (Constantin Hering. Gypser, K-H (Hrsg) (1988), Band 1, Burgdorf-Verlag).

Referenzliste / Literatur

[1] Eppenich, H.(2007). Zur Geschichte der richtungsweisenden Dissense unter den Homöopathen, dargestellt am Leitfaden der Geschichte der deutschen homöopathischen Krankenhäuser (Teil 1). Zeitschrift für Klassische Homöopathie. 41. 21-30. 10.1055/s-2006-938660. (S.72-81). https://doi.org/10.1055/s-2006-938660

[2] Haehl, R. (1922). Samuel Hahnemann Sein Leben und Schaffen. Band 1. von Richard Haehl. Unter Mitw. von Karl Schmidt-Buhl. Leipzig : Schwabe. https://archive.org/details/richard-haehl.-samuel-hahnemann-sein-leben-und-schaffen.-band-1.

[3] Hartmann, F. (1844). Aus Hahnemanns Leben. Allgemeine homöopathische Zeitung. AHZ 26. Bd. Nr.9 (S.129-134), Nr.10 (S. 145-150), Nr.11 (S. 161-168), Nr.12 (S.177-187), Nr.13 (194-203), Nr.14 (S.209-218), Nr.15 (S.225-236), Nr.16 (S.241-246).

[4] Hartmann, F. (1850). Meine Erlebnisse und Erfahrungen in der Homöopathie. Ein Beitrag zur Geschichte der ersten Anfänge der Homöopathie. Allgemeine homöopathische Zeitung. AHZ 38. Bd. Nr.19 (S.289-297), Nr.20 (S.305-311), Nr.21 (S.321-330), Nr.22 /S.337-342), Nr.23 (S.353-358), Nr.24 (S.369-378), AHZ 39. Bd. 1850 Nr.19 (S.289-295), Nr.20 (S.305-311).

[5] Hartmann, F. (1851). Meine Erlebnisse und Erfahrungen in der Homöopathie. Ein Beitrag zur Geschichte der ersten Anfänge der Homöopathie. (Fortsetzung). Allgemeine homöopathische Zeitung. AHZ 40. Bd. Nr.20 (S.305-313), Nr.21 (S321-328), Nr. 22 (S.337-345).

[6] Hartmann, F. (1852). Erlebnisse und Erfahrungen in der Homöopathie. Ein Beitrag zur Geschichte der ersten Anfänge der Homöopathie. (Fortsetzung). Allgemeine homöopathische Zeitung . AHZ 44. Bd. Nr.19 (S.289-297), Nr.20 (S.305-309).

[7] Müller, M. (1837). Zur Geschichte der Homöopathie. C.H. Reclam, Leipzig.

[8] Schmidt, J. (1999). Samuel Hahnemann - Begründer, Entwickler und Verteidiger der Homöopathie. In: Trapp, C. (1999). Homöopathie-Wegweiser 1999/2000. Sonntag Verlag.

[9] Schroers, F. D. (2006). Lexikon deutschsprachiger Homöopathen. Georg Thieme Verlag.


Verf.: smi | Rev.: mnr | Lekt.: pz | zuletzt geändert 14.01.2025